Politik

Flüchtlinge (von ’89 bis heute)

Dieses Wort ist schon seit etlichen Monaten in aller Munde, ein Schlagwort, bei dem jeder gleich hinhört und beim ersten gesprochenem Satz die meisten schon zu wissen scheinen, in welche Kategorie von Mensch der Sprecher einzustufen ist oder vereinfacht gesagt: Bei diesem Thema wird das Schubladendenken schön weiter gepflegt. Der Großteil der Künstler und Zeitungen sind pro Flüchtlinge, selbst dann, wenn die Flüchtlinge gar keine sind. Dementsprechend hörte ich mal die Aussage: „Warum sind Grenzen überhaupt da? Jeder Mensch sollte frei über die Erde wandeln können und dementsprechend sollte gehandelt werden!“ Meiner Meinung nach ist zwar diese Annahme in der Theorie wunderschön, doch sollte eine andere Theorie dies ergänzen: Konfuzius sah die Freiheit in einer bestehenden Ordnung gegeben, denn der Gegensatz von Ordnung ist Chaos und jeder kann sich vorstellen, dass die Freiheit im Chaos untergeht. Diese Ordnung in Europa hat seinen Preis und jeder Flüchtling sollte dies akzeptieren, tun viele aber nicht. Selbst ich als deutscher Bürger muss mich an- und abmelden, wenn ich beispielsweise umziehe und die Flüchtlinge nehmen sich das Recht raus, nach Europa einzumarschieren und nicht irgendwohin, nein nein, sie wollen in die wohlhabenden Länder. Wie erbost sie alle waren, als sie in Budapest festgehalten worden sind, weil sie sich nicht ausweisen konnten bzw. wollten, mal von der Registrierung ganz abgesehen. Aber ich kann ihren Missmut nachvollziehen, denn wer will schon in Ungarn bleiben? In einem Land, in dem man im Vergleich zu Deutschland nur die Hälfte des Geldes für die gleiche Arbeit kriegt, gleichzeitig aber für die Mieten, sowie die Unterhaltskosten fast genauso viel zu bezahlen hat. Wenn man Arbeit kriegt! Denn wenn nicht, sieht es noch düsterer mit den Sozialleistungen aus. Da ist man in Deutschland viel besser aufgehoben, das können Sie mir getrost glauben. Als ich letztens in Ungarn war, fand ich diese Aussage auch recht interessant: „In Deutschland sagt man, dass wir, Ungarn, den Flüchtlingen nicht helfen wollen. Als an die 100.000 Polen im Folge des 2. Weltkrieg zu uns geflüchtet sind, nahmen wir sie auf. Doch sie traten nicht die Tür ein. Nein, sie haben angeklopft.“ Heutzutage kursieren mal wieder die negativen Schlagzeilen über Orban, dass er die für Ungarn vorgesehenen Flüchtlinge nicht aufnehmen wolle. Warum sträubt er sich dagegen? Die Frage ist schlecht gestellt. Sie sollte eher lauten: Wollen die Flüchtlinge überhaupt nach Ungarn? Ich glaube, jeder kennt die Antwort. Er lässt es auf eine Volksabstimmung ankommen und schon liest man in den Zeitungen über Stimmen, die die Volksabstimmungen in bestimmten Situation nicht bevorzugen. Diese Leute haben wohl vergessen, wem sie ihre Stellung zu verdanken haben bzw. wem sie dienen sollten, eben – dem Volk. Etwas Positives will man über ihn ums Verrecken nicht berichten und das liegt nicht daran, dass es nichts Positives zu berichten gäbe: Bankensteuer, Senkung der Heizkosten, Familienförderung, Stabilisierung der Wirtschaft usw.. Naja, die Zeitungen werden schon wissen, was sie machen. Ich persönlich gebe sowieso nicht mehr viel auf die. Aber zurück zum Thema: Flüchtlinge.

Meine Mutter und mein Stiefvater sind mit meinem Bruder und mir damals (Anfang ’89) ebenfalls geflüchtet. Da man so viele Geschichten über Flüchtlinge erzählt, dachte ich mir, erzähle ich die Meinige: Fangen wir am besten da an, dass ich mit 11 Jahren gerade mich darüber aufrege, wie die Radiosprecher in die Songs reinquatschen, die ich mit meinem Kassettenrecorder aufnehmen will und somit ich wieder zurückspulen muss, um die Stelle zu finden, an der ich wieder neu aufnehmen kann, als mein Onkel in das Zimmer kommt und mir erklärt, dass wir packen müssen. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass wir in einem Wiener Hotelzimmer Burger essen. Doch zu damaligen Zeiten war es ein besseres Gefühl, Burger zu essen, denn in ganz Ungarn gab es nur ein McDonald’s, erst vor kurzem eröffnet und stets mit einer langen Schlange versehen. Doch wie kamen wir nach Wien?

Meine Mutter hat ihre Eigentumswohnung verkauft und ist dann mit meinem Stiefvater nach Österreich gereist. Das klingt aber einfacher als getan. Damals war Ungarn schon seit über 44 Jahren ein kommunistisches Land. Wenn die westlichen Mächte Ungarn in 1956 beim Volksaufstand gegen die Russen geholfen hätten, wären es nur 11 Jahre Kommunismus gewesen. Der Westen hätte gar nicht gegen die Russen kämpfen müssen, denn die haben wir eigenhändig aus dem Land gejagt, doch leider kam die versprochene Verstärkung zur Stabilisierung der Lage nicht, so dass die Russen mit ihren Panzern Ungarn wieder überrollen konnten. Und warum kam die nicht? Der Sinai-Krieg um das Erdöl war dem Westen wohl wichtiger, somit konzentrierten sie ihre Kräfte auf dieses Gebiet. Die Russen überrollten Ungarn, hunderte Tote, tausende Verhaftungen, Hinrichtung des Anführers und nochmals 33 Jahre Kommunismus. In diesen Zeiten hat man ein Visum gebraucht, um in den Westen fahren zu können. Auf so ein Visum musste ein normaler Bürger mehrere Jahre warten. Meine Mutter bekam irgendwann eins aber mein Stiefvater nicht, der – obwohl ungarisch sprechend – eigentlich aus Rumänien stammte und somit einen rumänischen Pass besaß. Also musste er sich im voll beladenen Taxi auf dem Boden hinter dem gut bestochenen Fahrer unter den vielen Koffern verstecken. Die Zollbeamten waren in dem Falle glücklicherweise nicht so gründlich. Wir wurden danach in der Begleitung meines Onkels ebenfalls an der Grenze in Mutters Obhut übergeben.

Von Österreich aus versuchen wir es mit dem Zug nach Deutschland, jedoch werden wir an der Grenze aus dem Zug gebeten. Mein Stiefvater darf nicht weiterfahren und meine Mutter erklärt schon seit Stunden den Zollbeamten auf deutsch, dass er ein Flüchtling ist. Sie redet viel und will die Beamten überzeugen, doch wie es sich später herausstellt, ist ihr deutsch noch schlechter als meines nach einem Tag Deutschunterricht. Wir müssen nach Österreich zurück und in einem Salzburger Hotelzimmer falten wir die Stadtkarte auseinander. Es geht dabei selbstverständlich nicht um die Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr um die Grenzgebiete. Wir entdecken eine deutsche Ortschaft nah der Grenze, ein kleiner Fluss scheint nur im Weg zu sein, der aber in Realität (nach Erzählung meines Stiefvaters) als ein stark strömender Fluss sich herausstellt und er in der Nacht kämpfen muss, um diesen Fluss zu überwinden. Die Kleider durchnässt, schlägt er sich durch den Wald und muss auch mal vor einem Hundestaffel sich verstecken – aber er schafft es.

Als Nächstes erinnere ich mich an diese Betonkomplexe irgendwo in Bayern, in dem die Asylsuchenden zusammengepfercht wurden, um deren Sachverhalte geklärt zu bekommen. Wer? Wieso? Wohin? Anträge ausfüllen, ohne deutsch zu können, ist keine leichte Aufgabe. Zum Glück gibt es da einige Dolmetscher. Ich habe Angst in diesem Durcheinander, der in einer hitzigen Atmosphäre voller ungeduldiger und angespannten Menschen die Räume füllt. Anscheinend bin ich nicht der einzige, der das empfindet, denn meine Mutter will außerhalb essen gehen. Wir gehen erleichtert aus diesem Gebiet der Asylanten und finden irgendwo in der Pampa ein deutsches Restaurant, in dem wir Schnitzel mit Kartoffeln bestellen. Die Kellnerin ist nicht gerade nett und ich erwische sie zu meiner Verwunderung immer wieder dabei, wie sie das für mich unbekannte Wort „So!“ sagt. Was will sie uns damit sagen, frage ich mich. Ich beschäftige mich mit ihrem Verhalten und als wir das Restaurant verlassen, komme ich zu dem Schluss, dass irgendwas bei ihr nicht stimmt.

Nach ein paar Tagen werden die nahen Verwandten in Deutschland ermittelt. Meine Familie hat keine, also müssen wir zur Kusine meines Stiefvaters an den Bodensee. Wir verbringen ein paar Nächte da, aber die Stimmung ist negativ, deshalb suchen wir uns schnell eine nicht gerade günstige Unterkunft woanders. Mein Bruder und ich werden dann in eine deutsche Vorbereitungsklasse eingeteilt, in dem der etwas eigenwillige und recht humorvolle Deutschlehrer in der ersten Stunde die Funktionalität der deutschen Kläranlage auf die Tafel mahlt und erklärt. Ich fühle mich wie in einem schlechten Film, vor allem deshalb, weil meine Eltern jedes neue Wort auswendig gelernt haben wollen.

Zu meinen Eltern muss gesagt werden, dass mein Stiefvater schon ein paar Jahre im rumänischen Gefängnis wegen Steuerhinterziehung saß und meine Mutter mit der Zeit zu einer Alkoholikerin geworden ist. Am Anfang waren es nur 1-2 Flaschen Weinschorle am Tag, aber als der Cognac kam, ging es bergab mit ihr: Sie ging immer weniger arbeiten, bis sie ganz aufhörte, alles verkaufte und auswanderte. In Deutschland war eine Cognacflasche am Tag für die beiden keine Seltenheit. Es gibt zwei Typen von Alkoholikern: Die ruhig grinsenden Besoffenen und die Streitsüchtigen, die wiederum am Anfang ihres Alkoholkonsums eher zu den Partyleuten gehörten, aber mit der Zeit aus Enttäuschung sich immer mehr und mehr mit der Flasche anfreundeten. Meine Mutter zählte zu den Streitsüchtigen, sie musste immer ihren Willen durchsetzen. So war sie schon in ihrer Kindheit und sie ist irgendwie nie ganz erwachsen geworden. Sie stritt mit unserem Vater, mit meinem Stiefvater, mit dessen Familie, mit uns Kindern, mit dem Arbeitgeber, mit dem Verkäufer, der uns Kindern den Cognac nicht aushändigen wollte, weil wir deutlich minderjährig waren, also eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, hat sie es mit jedem und jeder verkackt. Es kam zu Eifersuchtszenen mit meinem Stiefvater, denn jede Frau war in ihren Augen eine potenzielle schwanzgeile Nutte. Somit kam es auch mal zu Handgreiflichkeiten bei dem meine Mutter auch mal von meinem Stiefvater in den Schrank geschmissen und eingesperrt worden ist. Das Geld wurde unkontrolliert nach Lust und Laune ausgegeben, so dass wir (11 und 12 Jahre alt) zu Weihnachten von meiner Mutter 500 DM bekamen und damit in die weite Welt gehen konnten, um uns etwas zu kaufen. Und was haben wir damit gemacht? Na ein schönes, großes LEGO Piratenschiff gekauft! Oh mein Gott, war mein Stiefvater sauer, aber er konnte nichts machen, denn das Geld gehörte meiner Mutter und sie wollte mit dieser Geste in ihrem Suff nur ihre Liebe zu uns zeigen. Das meiste des Geldes hat wohl Rotkäppchen-Mumm Sektkellerei GmbH wegen der Marke „Chantré“ einsacken können. Zusammenfassend kann man ruhig sagen, dass das Geld aus der in Ungarn verkauften Wohnung in die deutsche Wirtschaft floss.

Ich persönlich schäme mich ein Flüchtling zu sein. Hasse es am Eingang vom Caritas für die kostenlosen Second-Hand Klamotten und Bettwäsche rumgeschubst zu werden oder habe Angst davor von einem Mitschüler beim Vorbeigehen dort wiedererkannt zu werden. Hasse die nimmer enden wollenden Behördengänge, bei denen wir als Übersetzer fungieren und hasse die unzähligen Formulare, die wir Kinder ausfüllen müssen. Habe Angst vor Nazis. Obwohl es eigentlich meine Mutters Entscheidung war aus dem Kommunismus zu flüchten, fühle ich mich auch wie ein Flüchtling. Laut deutschem Gesetz sind wir gar keine Flüchtlinge, mein Stiefvater zählt als Flüchtling, doch der Rest zählt zu den „geduldeten Ausländern“, deren Duldung immer neu beantragt werden muss und diese schon mehrere Male erst in letzter Sekunde verlängert worden sind.

Nach der Vorbereitungsklasse besuchen wir die Hauptschule und da wir fast nur Einser haben, können wir aufs Gymnasium wechseln. Wir strecken so viel, dass nach ein paar Tagen der englisch Lehrer nebenbei bemerkt, dass wir aufhören können zu strecken, da er sowieso weiß, dass wir die Vokabeln gelernt haben. Unserer Geschichtslehrer vergießt eine Träne und lächelt uns an als er vom Fall des eisernen Vorhangs bzw. von der Öffnung der ungarischen Grenze spricht. In dem Moment fühle ich mich als wäre ich etwas Besonderes, obwohl ich eigentlich mit der Sache direkt nichts zu tun habe. Wir machen unsere Hausaufgaben immer und verstehen nicht, wie die anderen so einfache Sachen nicht zu Hause erledigen können oder wollen. Später haben wir natürlich auch in dieser Hinsicht uns den Anderen angepasst. Im Abijahrgang wusste ich nicht mehr, bei welchem Lehrer mit welcher Ausrede ich mich schon wieder wegen Fehlen entschuldigen kann, ohne mich zu wiederholen. In den Ferien gehen wir arbeiten und können uns dadurch den Führerschein und ein Auto leisten, damit fahren wir des Öfteren mit Freunden nach Ungarn, um einen schönen Sommer am Plattensee bei meinem Vater zu haben. Laut Gesetz kann man nach sieben Jahren Schule in Deutschland sich einbürgern lassen. Wir gehen diesen Weg, weil es einfacher ist und müssen der ungarischen Staatsbürgerschaft entsagen. Somit sind wir keine Ausländer mehr.

Rückblickend muss ich sagen, dass ich Deutschland viel zu verdanken habe. Die Lehrer haben uns unterstützt und hatten viel Geduld mit unserer Mutter. Das Jugendamt nahm uns sofort in Schutz als unser Stiefvater handgreiflich wurde. Das Amt zahlte uns eine eigene Wohnung und die Unterhaltskosten für einige Monate bis zum Hochschulabschluss. Dank Bafög konnten wir studieren. Es ist beruhigend in so einem wohl funktionierenden Sozialstaat zu leben, doch verleitet dies allzu leicht dazu, es als selbstverständlich anzusehen und auszunutzen. Weil es eben so gut funktioniert und man „nur“ die bürokratischen Hürden überwinden muss, wird es meiner Meinung nach gar nicht so geschätzt. Dadurch verkommt man zu einem Nutznießer des Systems und wird ein Konsumkind. Saufen, Kiffen und Parties sind wichtiger als Wissen und Können. Irgendwann bleibt nur noch das Saufen und Hartz IV. Natürlich stellen sich diejenigen gerne als Opfer des Systems dar, letztendlich sind sie aber schwach und haben in diesem Großstadtdschungel aufgegeben zu kämpfen. Dann gibt es noch die Smarten, die Hartz IV beziehen und nebenbei noch schwarz arbeiten. Man ist in deren Augen blöd, wenn man normal arbeiten geht und vom System sich versklaven lässt. Wenn man die deutschen Politiker mit ihren hoch dotierten Nebenverdiensten, die übermenschlich hoch bezahlten Fussballstars, oder die abdankenden Manager mit ihren Millionenabfindungen nach gut oder auch nach schlecht getaner Arbeit betrachtet, ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Jeder muss selber wissen, wo er auf dieser Welt, wie am besten lebt und überlebt. Leider wird auch in Deutschland seit Jahrzehnten die Kluft zwischen arm und reich stetig größer. Am besten lässt sich vielleicht der Zustand an Hand eines Ereignisses wiedergeben, bei dem ein Gast für den ganzen Tisch mit vielen Fünfziger-Scheinen bezahlt und als ich nachzähle, bemerke ich, dass er mir ein Fünfziger zu viel gegeben hatte und weise ihn darauf hin. Er nimmt den Fünfziger an sich und anstatt dass er sich bedankt, sagt er: „Ehrlich dauert es am längsten!“. Und der ganze Männertisch bricht in Gelächter aus.

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